Back to the roots mit Baba Dunja

Eine Rezension von Christian Möller.

 

Innovationen und Fortschritt hin oder her. Jeder hat schon mal davon geträumt, dem Alltag zu entfliehen und am liebsten Smartphone und Laptop nie mehr gebrauchen zu müssen. Der stetige Wille sich weiter zu entwickeln, nicht stehen zu bleiben, sondern immer größer zu denken, ist eine Tugend der heutigen Zeit. Wer wirklich etwas erreichen will, muss in die Stadt ziehen und darf bloß nicht sein gesamtes Leben im selben Ort verbringen. Hinzu kommt der technische Fortschritt. Eine erfolgreiche Karriere ohne Unterstützung technischer Hilfsmittel ist kaum denkbar, sondern viel mehr ein romantischer Gedanke an alte Zeiten, in denen man sich noch auf das Wesentliche konzentrierte.

Wie schön die alten Zeiten waren und wie man sie wieder aufleben lassen kann, beschreibt Alina Bronsky in ihrem neuen Roman Baba Dunjas letzte Liebe, in dem sie das Dorf Tschernowo als Handlungsort nutzt, das sich in der Todeszone um Tschernobyl befindet. Ehemalige Bewohner des Dorfes, die aufgrund der Katastrophe ihre Heimat verlassen mussten, kehren zurück und wollen ihr Leben von früher fortsetzen. Dass sie sich in einer Todeszone befinden, wird durch die humorvolle Erzwählweise und Figurenkonstellation relativiert. Als Hauptprotagonistin wird hier die beinahe hundertjährige Frau Baba Dunja aufgeführt. Als scharfzüngige Ich-Erzählerin beschreibt sie ihre Aufgaben des Alltags, den Umgang mit den weiteren Bewohnern und fängt den Leser durch ihre lakonisch formulierten Lebensweisheiten.

In ihrem früheren Leben war Baba Dunja Krankenschwester. Stets bemüht, sich um andere Menschen zu kümmern, gilt sie auch im Dorf als eine Art Bürgermeisterin und Person, dessen Meinung von Relevanz ist. Baba Dunja ist nicht etwa intellektuell gebildet, sondern sie spricht aus Erfahrungen, die sie in ihrem Leben als Krankenschwester, Mutter und Einwohnerin Tschernowos gesammelt hat.

Durch die Schaffung eines Niemandslands bietet Bronsky eine Gegenwartsliteratur der anderen Seite. Nämlich eine Geschichte von Menschen, die nicht im jetzt leben wollen, sondern das Alte schätzen und dieses versuchen zu bewahren. Bronksy liefert mit Baba Dunjas letzte Liebe einen Roman, der mit seinen Bildern in das Herz unserer  Gesellschaft trifft. Denn Tschernowo ist ein von der Außenwelt losgelöstes Dorf, das trotz seiner Seltsamkeiten die Leser beeindruckt und fesselt.

Das Leben in Tschwernowo scheint perfekt. Liebevoll beschreibt die Ich-Erzählerin, wie sie frisches Obst und Gemüse aus dem Garten erntet, die großen Beeren vom Strauch isst und den Vögeln beim Zwitschern zu hört. Statt Nachrichten per Telefon zu versenden, besucht sie die Nachbarn persönlich. Und anstatt sich durch das Übermaß an Produkten aus der Stadt verführen zu lassen, freut sie sich über die Dinge, die die Natur einem zur Verfügung stellt.

Eine hübsche Kulisse, in der man sich auf das Wesentliche konzentriert, verdankt man einer Katastrophe, die dazu führte, in einer Welt ohne Zeit zu leben. Eine Welt, die sich auch manch ein Leser wünscht. Eine Welt ohne Hektik und vor allem ohne unnötige Erfindungen. Fast schon paradiesisch klingen die Beschreibungen des Dorfes, wenn Baba Dunja vom duftenden Honig und Rosenöl erzählt.

Doch wäre da nicht noch die andere Welt. Die Stadt. Die Menschen, die nicht in Tschernowo leben, sondern sie meiden und ihre Einwohner mit Argwohn betrachten. Bronsky beschreibt in ihrem Roman die Stadt als einen Ort, in dem die Luft verschmutzt ist, die Politiker korrupt sind und überhaupt alles gar nicht lebenswert ist. Doch so schön das ruhige Leben im Dorf auch sein mag, gehört zu jeder Parallelwelt auch die Abhängigkeit zu einer übergeordneten Welt, die in diesem Fall die naheliegende Stadt Malyschi ist.

Als Rezipient entscheide ich mich für das Dorf. Ob’s verseucht ist oder nicht. Das Leben dort scheint schöner zu sein. Als Leser möchte ich mehr von dieser Welt erfahren, ich möchte die einzelnen Bürger und ihre Schicksale kennenlernen. Jedoch passiert das nicht. Bronsky leitet mit einfachen Sätzen und kleinen Weisheiten, die jeder schnell zu verstehen mag, durch die Geschichte von Tschernowo, vergisst allerdings dabei in die Tiefe zu gehen. Die Dialoge, die Baba Dunja mit ihren Leuten führt, fallen zu kurz aus, sodass eine ausgefeilte Charakterisierung der anderen Personen kaum stattfindet. Als Leser möchte ich mehr, bekomme es aber nicht.

Da es in Tschernowo kaum Infrastruktur gibt, muss Baba Dunja Briefe schreiben. So versucht Bronksy durch die Einbettung intertextueller Elemente in Form von Briefen die Beziehung zwischen der außenliegenden Welt und dem verseuchtem Dorf herzustellen, was ihr allerdings nur in einem geringen Maße gelingt. Denn die Briefe, die Baba Dunja an ihre Tochter schreibt, sind zwar emotional geladen, sie deuten sogar darauf hin, eine enge Beziehung führen zu wollen, doch leider erfahre ich wieder einmal zu wenig. Die Handlungsstränge in Baba Dunjas letzte Liebe sind zu groß angelegt, während der Fokus zu sehr auf Baba Dunja gesetzt wird.

Was mir also bleibt, ist viel Spielraum. Oder anders formuliert: Bronsky schafft es nicht, ihren Alternativentwurf einer durch eine Katastrophe entstandenen Welt so weit auszubauen, dass es mehr als nur eine Kulisse ist.