Chamisso-Preisträger im Gespräch mit Schülern

nähere Informationen zum Projekt des Friedrich-Bödecker-Kreises in M-V e.V. finden Sie hier.

 

Zehra Çırak: "Der Geruch von Glück"

Kara verachtet feste harte Dinge, die sie nicht zwischen ihren Fingern zerk­lei­nern und zerdrü­cken kann. Kaugummi, Kerzen­wachs, selbst Brot­krumen, die sie anfeuchtet und weich in den Fingern rollt und reibt, machen ihr Freude. Am liebsten hat sie Salz- oder Sesam­stangen, von denen sie nur kleine Stück­chen abkn­ab­bert und zwischen ihren Vorder­zähnen zerkaut und die sie dann wieder heraus­nimmt, und, feucht und weich, so lange zwischen ihren Fingern zerdrückt, bis sie kleine Kügel­chen oder Würm­chen daraus formen kann. Karas Freund­schaft mit solchen Dingen ist sehr alt. Schon als Kind hatte sie mit dem Zupfen und Zwir­beln und Verk­noten ange­fangen. Damals schon rupfte sie kleine Fädchen aus dem Schafs­fell heraus, das zu Hause auf dem Sofa des Wohn­zim­mers lag. Sie zupfte und rieb die Fädchen und machte kleine Knöt­chen hinein und rupfte die Knöt­chen ausein­ander und ließ sie fallen. Kara pflegt ihre Freund­schaften mit den Dingen in ihrem Leben sorg­fäl­tiger als die mit den Menschen. Auf immer verlo­rene Dinge, die sie liebte, schmerzen sie mehr als der Verlust von Freunden. Liebe niemals etwas, woran du zu sehr Erin­ne­rung gebunden hast, denn wenn du es verlierst, ersetzt nichts es jemals voll­ständig. Aber Freund­schaften mit Menschen lassen sich ersetzen, neu finden oder knüpfen wie die Knödel und Knoten ihrer komi­schen oder läst­igen Neigung.

Zur Autorin:
Die in Istanbul geborene Deutschtürkin (Jahrgang 1960) lebt seit ihrem
3. Lebensjahr in Deutschland. 1987 veröffentlichte die Lyrikerin den ersten Gedichtband. 2001 erhielt sie für ihr künstlerisches Schaffen den Adelbert-
von-Chamisso-Preis. Zehra Çırak beschäftigt sich in ihrer lyrischen Arbeit mit allgemeinmenschlich-existentiellen und privaten Brüchen und Übergängen, wobei Liebesgedichte und poetologisch-sprachkritische Gedichte einen Schwerpunkt bilden.

D ie Veranstaltungsreihe vom Friedrich-Bödecker-Kreis in M-V e. V. wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung. 

 

 

Nellja Veremej: „Berlin liegt im Osten“

Ein Berlin voller Lebensgeschichten und eine Autorin, die sich einfühlsam an die Seite ihrer Figuren stellt.Aus einem kaukasischen Städtchen über Leningrad bis nach Berlin führt das grandiose Roman-Debüt von Nellja Veremej, das seine geographischen und kulturellen Motive schon im Titel trägt. "Berlin liegt im Osten" heißt das Buch, in dem von den städtischen Enklaven russischer Migran-
ten ebenso farbig erzählt wird wie von Provinzkindheiten in der ehemaligen Sowjetunion. Das Berlin dieses Romans, der rund um den Alexanderplatz spielt, hat seine Reservate der Einsamkeit und der Lebensfreude, und es wird durch die
unnachahmliche Stimme einer Ich-Erzählerin lebendig, die den nur scheinbar
unspektakulären Beruf einer Altenpflegerin ausübt. Durch sie hindurch wandern
die Lebensgeschichten der Klienten und verbinden sich mit ihrer eigenen Biografie.
Darin gibt es neben dem aberwitzigen, fast surrealen Osten auch ein Deutschland,
in dem diese Frau endgültig anzukommen versucht. "Berlin liegt im Osten" lebt
von der zarten Zuneigung der Autorin zu ihren Figuren, der Roman entwirft ein
großes Panorama aus Geschichten und Geschichte, und er handelt vom Anfang
allen Erzählens: von der Erinnerung.

 

 

Copyright: Lorena Simmel

Matthias Nawrat: "Der Unternehmer" & "Die vielen Tode unseres Opas Jurek"

„Der Unternehmer“

Lipa ist dreizehn, und sie ist Mitarbeiterin des Monats in einem Familienunternehmen der besonderen Art. Gemeinsam mit dem Vater und ihrem kleinen Bruder, dem einarmigen Berti, durchforstet sie die Industrieruinen der Schwarzwaldtäler nach verwertbaren Stoffen, Tantal und Wolfram etwa, denn die, sagt der Vater, „werden uns besonders reich machen“. Er sagt: „Heute ist Spe-zialtag.“ Und: „Schmerzen müssen wir ertragen können. Das ist das Gesetz des Unternehmertums.“
Davon, aber auch von Lipas Liebe zum langen Nasen-Timo, vom Aufbegehren und von den unvermeidlichen Verschiebungen im Familiengefüge erzählt Matthias Nawrat in kaum je gehörten Sätzen. „Unternehmer“ sucht nach dem Wert und dem Wesen der Arbeit, der Familie, der Liebe, überhaupt der Beziehungen untereinander und berichtet davon mit den Mitteln der Poesie: witzig, warmherzig und auch weise. Dass Matthias Nawrat als Erzähler die Menschen kennt, als Naturwissenschaftler aber auch die Dingwelt und ihre Gesetze, hält dieses Unternehmen mühelos am Boden der Tatsachen.
„Ein grandioser Auftakt“, befanden Jury und Publikum des Bachmann-Preises über das erste Kapitel dieses abenteuerlichen Coming-of-Age-Romans, der zugleich Parabel ist auf die Welt der Werktätigen und eine dunkle Liebeserklärung an den Schwarzwald.

Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, siedelte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg über. Er studierte in Freiburg und Heidelberg Biologie, danach am Schweizer Literaturinstitut in Biel. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er u. a. den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Sein Roman „Unternehmer“ (2014), euphorisch besprochen und für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde u. a. mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet. Matthias Nawrat lebt in Berlin.

Die Veranstaltungsreihe vom Friedrich-Bödecker-Kreis in M-V e. V. wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung.